Christian Morgenstern, Der Werwolf |
|
Ein Werwolf eines Nachts entwich |
von Weib und Kind und sich begab |
an eines Dorfschullehrers Grab |
und bat ihn: „Bitte, beuge mich!“ |
|
Der Dorfschulmeister stieg hinauf |
auf seines Blechschilds Messingknauf |
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten |
geduldig kreuzte vor dem Toten: |
|
„Der Werwolf“ – sprach der gute Mann, |
„des Werwolfs, Genitiv sodann, |
dem Werwolf, Dativ, wie man’s nennt, |
den Werwolf, - damit hat’s ein End!“ |
|
Dem Werwolf schmeichelten die Fälle |
er rollte seine Augenbälle. |
„Indessen“, bat er, „füge doch |
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!“ |
|
Der Dorfschullehrer aber musste |
gestehn, dass er von ihr nichts wusste. |
Zwar Wölfe gab’s in großer Schar, |
doch „Wer“ gab’s nur im Sinular. |
|
Der Wolf erhob sich tränenblind – |
er hatte ja doch Weib und Kind! |
Doch da er keine Gelehrter eben, |
so schied er dankend und ergeben. |
|
Verfasser dieses deutschen Gedichtes ist Christian Morgenstern (Kristiano Matenstelo, *1871-05-06 - †1914-03-31). |